Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel: Das gestaltberaterische Kontaktzyklusmodell in der sozialen Arbeit (2013)

Soziale Arbeit in längerfristigen Kontexten, wie z.B. Einzelfall- und Familienhilfe, betreutem Wohnen etc., entfaltet ihre Wirkung auch dadurch, dass sie Beziehungsarbeit ist. Diese Beziehung ist charakterisiert durch Asymmetrie mit offenen und verdeckten Machtaspekten, zudem ist sie oftmals eher verordnet denn frei gewählt zustande gekommen, erschwert durch unterschiedliche Erwartungshaltungen und dem Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle für den Sozialarbeiter. Beziehungsarbeit unter nicht gerade leichten Vorzeichen.

Im Folgenden möchte ich das gestaltberaterische Kontaktmodell kurz vorstellen und den Beitrag, den es für eine positive Beziehungsgestaltung leisten kann, herausarbeiten.

Gestaltberatung fußt, wie jeweils auch die anderen Beratungsmodelle, auf Konzepten ihrer Therapieform. In die Gestalttherapie sind verschiedene Konzepte eklektisch eingegangen, wobei das Konzept der Figur-Hintergrundbildung aus der Gestaltpsychologie stammt. Der Gestaltbegriff geht auf Christian von Ehrenfels (1859-1932) zurück, der damit eine Gesamtheit bezeichnete, die mehr als die Summe ihrer Teile ist und die transponiert noch immer als die spezifische Gestalt erkennbar ist, wie z.B. eine Melodie.

Max Wertheimer (1880-1943) fand bei seinen Untersuchungen von Phi Phänomenen heraus, dass das Schaffen von Zusammenhängen mittels Gestaltbildung keine Notlösung des menschlichen Auges ist, sondern sich darin Gesetzmäßigkeiten widerspiegeln. Für den Bereich des problemlösenden Denkens postulierte er, dass das Umstrukturieren der zum Problem führenden Zusammenhänge die Lösung ermögliche. In zeitlicher Kongruenz mit Lewins Feldtheorie wurde das Konzept der Gestaltbildung auch auf soziale Welten übertragen, wobei die Übertragung von optischen Gesetzmäßigkeiten auf soziale Wirklichkeiten als solche nicht kritisch hinterfragt wurde.

Perls (1893-1970) griff mit seinem Kontaktmodell gestaltpsychologisches Denken auf. Man kann sein Modell durchaus als ein normatives Bild der guten Kontaktgestalt begreifen, sinnvoller erscheint es mir, es als Orientierungsleitfaden im jeweiligen Kontakt-Beziehungsgeschehen zu nutzen.

Perls ursprüngliche Fassung des Kontaktmodells der Gestalttherapie ging von vier Phasen aus, in der späteren Revision durch die Cleveland School wurden sieben Phasen benannt, wobei man sich einerseits von Perls biologistischen Beispielen distanzierte (wie z.B. Durst spüren, seine Gedanken und Handlungen auf die Durstbeseitigung ausrichten und dem Verschwinden des Bedürfnisses nach dem Trinken), andererseits wurden die einzelnen Phasen detaillierter ausgearbeitet. Um das Verständnis zu erleichtern, beziehe ich mich im Folgenden auf die Perl’sche Terminologie, arbeite aber die Differenzierungen der Cleveland School mit ein.

Theoretisch wird davon ausgegangen, dass sich in der meist teilbewusst verlaufenden Vorkontaktphase eine Empfindung bzw. ein Bedürfnis im Menschen als eine Figur herausbildet, wobei nicht zur aktuellen Figur Gehörendes in den Hintergrund tritt. Den Hintergrund bilden jeweilige Lebenserfahrungen, Einstellungen etc. Die im Vordergrund sichtbare Gestalt ist aber letztlich nur vor dem spezifischen Hintergrund verständlich und von ihr wird angenommen, dass sie im Folgenden die Wahrnehmung, die Bedeutungsgebung, das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen organisiere. In der 2. Phase, der des Kontaktnehmens, werden zunächst innerlich Möglichkeiten zur Bedürfniserfüllung oder zur Erreichung des Ziels, welches durch die Empfindung bedeutend wurde, durchgespielt, um dann letztlich in einer bestimmten Handlung zu münden. In der 3. Phase (Kontaktvollzug) führt das Individuum seine Handlung aus. Hierbei kann es zu einer vertieften Begegnung zwischen Menschen oder zu einer intensiven Beschäftigung mit Dingen kommen, da das Modell der Gestalttherapie prinzipiell nicht zwischen Handlungen als solchen und zwischenmenschlichen Interaktionen unterscheidet. In dieser Austauschphase entstehen neue Erfahrungen, die idealerweise eine Bereicherung darstellen. In der letzten Phase (Nachkontakt) beginnt der Rückzug des Individuums, es verabschiedet sich von dem Austausch mit dem Gegenüber, reflektiert seine Erfahrungen, trennt zwischen dem, was es für sich behalten und integrieren möchte, und dem, was es als nicht adäquat für sich zurückweist. Im Anschluss setzt eine Ruhepause ein, aus der heraus ein neuer Kontaktzyklus entstehen kann. Gestalttherapeuten gehen davon aus, dass sich in der Alltagswirklichkeit mehrere Kontaktzyklen zeitlich überlappen und daher das Kontaktgeschehen komplexer ist, als es das Modell der Gestalttherapie abbildet.

Von diesem Modell ausgehend, ergeben sich drei Bereiche, in denen Kontakt stattfindet:

  • Mein eigenes Kontaktverhalten als Berater bzw. Sozialarbeiter
  • Das Kontaktverhalten des Klienten
  • Und wie mein Gegenüber und ich den gemeinsamen Kontaktzwischenraum gestalten, bildlich gesprochen, wie wir uns die Bälle zuwerfen.

So selbstverständlich das Kontaktmodell auf den ersten Blick aussehen mag, so wenig ist es selbstverständlich, dass jemand die einzelnen Phasen situationsangemessen durchläuft. Speziell bei Studenten der Hochschule oder bei Berufsanfängern fallen mir die starke Zielorientiertheit und der ausgeprägte Wunsch zu helfen auf, so dass oftmals die erste Phase fast übersprungen wird und man gleich mit der 2. Phase der Suche der Handlungsmöglichkeiten beginnt. Das hat die Tendenz zur Folge, eine Beziehung zu machen, statt sie entstehen zu lassen. In der Phase des Kontaktvollzugs entsteht viel Nähe, vor der man zurückschrecken kann, weil es einem zu dicht ist, oder in der man sich sonnt, weil sie ein Helfer-Ich durchaus aufpäppeln kann. Der Nachkontakt würde ein Nachschwingen beinhalten und nicht ein Ab- oder Umschalten zum nächsten Fall.

Schaut man sich die Klienten an, so fallen auch hier einige häufig vorkommende Kontaktzyklusstörungen auf. Viele Klienten, die Beschränktheits- bis hin zu Gewalterfahrungen gemacht haben, weisen bereits eine große Ambivalenz in der 1. Phase auf. Da mag sich durchaus ein Impuls bilden, der aber schnell „einen auf den Deckel bekommt“, da bisherige Lebenserfahrungen sich eher negativ auf Selbstwert, Erfüllung eigener Wünsche und Bedürfnisse auswirkten. Das drückt sich in Worten wie „Ja, aber…“, in Interessen- und Ziellosigkeit aus. Störungen in der 2. Phase können sich v. a. darin äußern, dass Klienten durchaus wissen, was sie möchten, aber wenig Handlungsalternativen kennen, was sich z. B. in einseitigen Handlungsmustern oder Handlungsunfähigkeit ausdrücken kann. Gemeinsam mit dem Klienten nach solchen Alternativen suchen und zu ihrer Umsetzung beitragen, ergibt sich hieraus als Arbeitsauftrag. Für Klienten, die wenig tragfähige Nähe erlebt haben bzw. die wenig Nähe zu sich selbst entwickelt haben, ist die 3. Phase ein hohes Risiko, das nach Möglichkeit vermieden wird. Bei Suchtkranken ist das Bild insofern verschoben, dass gerade die 3. Phase immer wieder gesucht wird, da sie aber u. a. nicht in den vollständigen Zyklus eingebettet ist, wird sie letztlich immer wieder als Enttäuschung erlebt. Bei einigen Klienten, die sehr verschlossen und misstrauisch sind, steht die letzte Phase im Vordergrund, hat aber hier eher die Funktion des geschlossenen Gartentors.

Während diese beiden Bereiche seitens des Helfers v. a. Selbst- und Fremdbeobachtungsfähigkeiten erfordern, braucht es für die Wahrnehmung des Kontaktzwischenbereichs das, was die Gestaltberater Awareness nennen, was mit Wahrnehmen/Erleben übersetzt wird. Awareness meint im Geschehen sein, es mitzugestalten und es auch gleichzeitig aus Distanz beobachten zu können. Es ermöglicht, in seiner Mitte zu ruhen. So haben Gestaltberater einerseits fein ausgebildete Wahrnehmungsfähigkeiten und können im Allgemeinen gut die Balance zwischen Involviertsein und Abstinenz erreichen. Das macht sie zu sensitiven, aber auch handfesten Partnern im Beziehungsgeschehen, mit denen man Auseinandersetzungen in der Alltagsrealität gut führen können sollte.

Dr. phil. Dipl.-Psych. Sylvia Siegel: Das gestaltberaterische Kontaktzyklusmodell in der sozialen Arbeit (2013)