Nun arbeite ich seit 20 Jahren als integrative Gestalttherapeutin in eigener Praxis. Ich habe in der Zeit sehr viele, sehr unterschiedliche Menschen sowie verschiedene Zugangswege zu ihnen kennengelernt. In verschiedenen Fortbildungen habe ich mein Wissen u.a. zum Thema EMDR erweitern können.
Dabei habe ich einerseits beobachtet, wie sich Psychotherapieverständnis verändert hat. So sind z.B. psychotherapeutische Modelle über psychische Struktur weitaus differenzierter geworden, so dass Interventionen auch zielgenauer eingesetzt werden können. Andererseits sind grundlegende Werte wie z.B. die Haltung des Psychotherapeuten, Respekt vor den Klienten, Menschlichkeit, Humor und Gelassenheit über die Zeit hinweg gleichbedeutend wichtig geblieben.
In letzter Zeit habe ich mich besonders für ein Verfahren begeistert, da es in meinem Arbeitsspektrum eine neue Dimension bedeutet. Ich spreche von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), was in der deutschen Übersetzung Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung heißt. Die ressourcenorientierten Aspekten, die in dieser Arbeitsweise stecken, haben v.a. mein Interesse geweckt. Auch, wenn ich in diesem Artikel nur auf diese Aspekte fokussiere, möchte ich der Vollständigkeit halber etwas zur Methode im Allgemeinen vorab sagen.
Ursprünge der EMDR Methode
Die EMDR Methode basiert auf einer bilateralen (d.h. körperlich-zweiseitigen Stimulierung, die entweder durch Augenbewegungen (wie in der Namensgebung verwendet), aber auch durch taktile bzw. akustische Reize erfolgt. Entwickelt wurde diese Psychotherapieform Ende der 80er Jahre zur Behandlung von Traumafolgestörungen von Dr. Francine Shapiro.
Heutzutage wird sie jedoch nicht nur in diesem Bereich eingesetzt, sondern auch bei anderen psychischen Störungen wie z.B. Angststörungen, Depressionen, stoffgebundenen Abhängigkeiten1. Auch in der Beratung und im Coaching eignet sich EMDR-Methodik zur Behebung von Blockaden (z.B. Schreiben, Lernen, Problemlösen) und zur Stressreduzierung2.
EMDR Methode in der Praxis
Das Vorgehen in der EMDR Methode verläuft entlang eines roten Fadens, der „Protokoll“ genannt wird. Er kann entsprechend der spezifischen Situationen verändert werden. Im Allgemeinen wird zunächst ein Ressourcenteam in der Imagination zusammengestellt, das sowohl als eine positive Einstimmung zur Nutzung der Selbstheilungskräfte als auch in brenzligen Momenten als „unterstützende Mannschaft“ dient. Dann fokussiert man auf das psychisch geladene Bildmoment der kritischen Situation (Ereignis), das in der jeweiligen Stunde bearbeitet werden soll.
Nachdem dazugehörige Gefühle, Körperwahrnehmungen, subjektive Überzeugungen erfragt und das Beeinträchtigungsempfinden skaliert wurde, kann die eigentliche Arbeit des Desensibilisierens und Resprozessierens beginnen. Meist stößt man so zu den ursprünglich auslösenden Ereignissen und damit verbundenen belastenden Gefühlen, Erinnerungen und erlebten Dilemmata. In diesem Prozess werden assoziativ negative neurologische Verbindungen gelöst. Bildlich gesprochen wird der Gehirnfluss wieder in Gang gesetzt, so dass durch eigene Selbstheilungskräfte positive Lösungsmöglichkeiten entstehen und neurologisch verankert werden können.
Fallbeispiel eines EMDR Prozesses
Innerhalb eines Ausbildungsworkshops arbeitete ich mit einer selbsterfahrenen Kollegin, die an Schlafstörungen litt, wenn arbeitsintensive Zeiten anstanden. So sehr sie sich auch bewusst machte, dass sie die Herausforderungen gut meistern würde, in der Nacht erlebte sie Anspannungen, die sie aufweckten, und die sie dann für 1-2 Stunden wach hielten. Sie hatte bereits Unterschiedliches aus ihrem psychologischen Repertoire genutzt und konnte auf Erfolge blicken. Jedoch in manchen Nächten schien ein unbewusster Teil vollkommen unbeeindruckt davon in starke Aufregung zu geraten.
Innerhalb eines EMDR-Prozesses rundete sich nun das Bild wie folgt: sie erinnerte sich, dass sie als 5jährige in der Zeit der Trennung ihrer Eltern für einige Wochen bei einer Familie untergebracht war, die ihre Mutter zwar gut kannte, bei der sie jedoch vorher als Kind nie einen längeren Zeitabschnitt verbracht hatte. Und sie hatte diese Familie als sehr steif und kontrollierend im Umgang miteinander in Erinnerung. So hatte sie als 5jährige zum einen ihre eigenen Ängste (wie geht es mit mir, mit meinen Eltern weiter, wo werde ich leben?) und zum anderen die unterschwelligen Ängste der Familie, die sie als so hypervorsichtig im Kontakt miteinander erlebte, versucht, über Kontrolle in Schach zu halten.
Im EMDR-Prozess wurde auch deutlich, wie fest sich dieses Kontrollieren als Überlebensmechanismus etabliert hatte. Es konnte jedoch gut aufgelöst werden, so dass in der Folgezeit auch bei starken Arbeitsbelastungen, die Schlafstörungen nicht mehr oder wenn überhaupt, nur für Minuten auftraten.
Integration des EMDR Ressourcenteams in der gestalttherapeutischen Praxis
Bei der Integration von EMDR in meine Praxis machte ich eine spannende Erfahrung: Die Etablierung des Ressourcenteams mit Hilfe der bilateralen Stimulierung brachte beachtliche positive Effekte3 hervor, mit denen ich zunächst gar nicht gerechnet hatte. Ich spreche hier von Klienten, die bereits vorher mit mir gearbeitet hatten und wo ich herausfinden wollte, in wieweit EMDR-Prozesse in die laufenden Therapien eingebettet werden konnten.
Zum besseren Verständnis möchte ich hier nun das Ressourcenteam vorstellen. An erster Stelle steht die Frage nach einem sicheren, friedvollen inneren Ort. Das ist der Schutzraum, in dem wir uns 100% sicher, sowie auch geborgen und gut aufgehoben fühlen. Als solche Orte werden oft der Himalaya, die einsame Insel, eine Höhle oder auch Symbole wie Abrahams Schoß benannt.
Als nächstes werden fürsorgliche Figuren erfragt. Diese können reale Personen sein (meist sehr gute Freunde und Unterstützer), aber man kann auch auf Figuren aus Büchern, Märchen, Filmen etc. zurückgreifen. Der Vorteil solcher Figuren ist, dass sie als nur positiv erlebt werden und nicht, wie reale Personen, auch ihre Schattenseiten haben. Das ist für einen solchen imaginationsbasierten therapeutischen Prozess von Vorteil, da so die positive Wirkungskraft ungebrochen ist. Als nächstes wird nach Beschützern gefragt, die wiederum auch reale oder fiktive Personen/Figuren sein können. Hier werden oftmals auch spirituelle Kräfte wie Schutzengel benannt. Zum Abschluss wird ein Symbol der Weisheit mit ins Team aufgenommen und mittels bilateraler Stimulierung geankert.
Als bemerkenswert erlebte ich, dass es für manche meiner KIientInnen gar nicht so leicht war, diese unterschiedlichen Ressourcen zu benennen, v.a. bei der Frage nach den fürsorglichen oder beschützenden Figuren mussten wir die eine oder andere Hürde nehmen, um entsprechende Figuren präsent werden zu lassen und dann bilateral verankern zu können. Positiv beeindruckte mich die energetische Veränderung dieser Menschen: sie wirkten nach der Etablierung des Ressourcenteams z.B. ruhiger oder geerdeter, innerlich stärker und präsenter oder aufgerichteter.
Fallbeispiele gelungener Integration in gestalttherapeutischer Arbeit
Zum besseren Verständnis möchte ich hier zwei Beispiele anführen: Ein Klient kam in der Stunde nach einer Augenoperation innerlich aufgewühlter zu mir, als er selbst vorab erwartet hatte. Da er in seiner Kindheit sehr große Gewalt durch den Vater erlebt hatte, war er sehr sensibel in Bezug auf körperliche Unversehrtheit. Und so traf da die OP einen alten Nerv. Er hatte durchaus über die Jahre viele Strategien erlernt, um mit seiner vegetativen und emotionalen Beunruhigung umzugehen, aber gerade an dieser Stelle griffen diese Strategien nicht so sehr. Mit ihm nutzte ich die Variation, dass er sich selbst taktil stimulierte (abwechselndes Klopfen am rechten und linken Knie).
Ich war erstaunt, wie lange er die einzelnen bilateralen Stimulierungsphasen ausdehnte, konnte aber gleichzeitig gut nachvollziehen, wie er damit in eine tiefe innere Beruhigung kam. Auch wenn die Beruhigung nach einer Augenoperation nicht vordergründiges Therapieziel war, nahm er die Erfahrung gerne mit und erzählte mir später, dass er auch in anderen Momenten, wenn er sich so aufgewühlt fühlte, diese Methode nutzte.
Eine andere Klientin war bei mir in Behandlung, um u.a. ihre Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung und der Abgrenzung anderen gegenüber zu stärken. Biographischer Hintergrund waren hier sich massiv streitende Eltern, die die Tochter in den Streits instrumentalisiert hatten. Die grenzüberschreitende Mutter „explodierte“ schnell, so dass die Klientin sich als Kind viel in die Ecke gedrängt gefühlt hatte. In manchen von ihr heutzutage als problematisch empfunden Situationen erschien es mir, als ob sie im Gefühlsbereich wenig Ahnung einer gesunden Abgrenzung hatte. Daher überforderten die typischen gestalttherapeutischen Fragen, die ansonsten hilfreich sind, die Klientin. Antworten kamen mehr aus dem kognitiven Bereich, erwiesen sich aber auf der Gefühlsebene als wenig hilfreich.
Das Aufstellen eines Ressourcenteams war für die Klientin eine Herausforderung, weil gerade die fürsorglichen und unterstützenden Figuren in ihrer Kindheit und auch in ihrer Gegenwart rar gesät bzw. ambivalent besetzt waren. Während der Etablierung des Ressourcenteams mittels der bilateralen Stimulierung war eine körperliche Aufrichtung und innere Gelassenheit bei der Klientin zu beobachten. Sie nutzte diese Methode nicht, wie anfangs angedacht, in den folgenden Tagen für sich selbst, aber wir wiederholten die bilaterale Stimulierung in unserer darauffolgenden Sitzung. Und dann begann sie davon zu berichten, dass es ihr leichter fiel, sich selbst in Bezug auf das Abgrenzungsthema wahrzunehmen. In unseren Sitzungen erlebte ich sie auch im Kontakt forscher. Natürlich gab es dann auch wieder Phasen, in denen ein depressiver Rückzug im Vordergrund stand und ich das Ressourcenteam nutzte, um es ihr zu ermöglichen, mehr in ihre Mitte zu kommen, um herauszufinden, wie sie mit einer solchen – ihr ja auch bekannten Situation – umgehen könnte.
Gestalttherapie und EMDR Methodik
Um nachvollziehen zu können, welchen Stellenwert diese ressourcenorientierte Methode in der Gestalttherapie haben kann, ist es hilfreich auf die Entwicklung der Gestalttherapie zu schauen. Die bekannten Bücher von Fritz Perls4 aus den Anfängen der Gestalttherapie beschreiben Methoden, die gut bei einer Klientel eingesetzt werden können, die in ihrer psychischen Struktur angemessen stabil ist und die mit Hilfe (gefühls-) erlebniszentrierter Methoden einen Durchbruch gegenüber den eigenen neurotischen psychischen Widerstand erreicht und so psychisch wachsen kann.
Fachlich ausgedrückt: es handelte sich eher um eine Klientel mit mäßig bzw. mäßig gutem Integrationsniveau der psychischen Struktur5 und Menschen, die nicht unter die gängigen psychischen Diagnosekriterien fielen, jedoch gerne ihre Lebensqualität verbessern wollten. Zeitgleich arbeitete Laura Perls mit Menschen, die gerade wegen psychischer Problemlagen Therapie aufsuchten. Bei ihr standen die kleinen Schritte und die Unterstützung (support)6 im therapeutischen Mittelpunkt. Da diese beiden therapeutischen Vorgehensweisen in vielem sehr unterschiedlich sind, spricht man von dem eher konfrontativen Westküstenstil von Fritz Perls und dem klinisch-therapeutisch orientierten Ostküstenstil von Laura Perls. Heutzutage haben sich jedoch die Anwendungsgebiete der Gestalttherapie sehr erweitert7. Gestalttherapie ist z.B. auch einsetzbar bei Menschen, die einen Bedarf am Nachreifen psychischer Strukturen haben, Menschen, die unter Traumafolgestörungen leiden oder jene, die sich mit Abhängigkeits- und Suchtproblematiken auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig herauszufinden, zu welchem Menschen eine Methode passt (individuelle Passung), für welche therapeutische Problemstellung (Indikation) und an welcher Stelle im therapeutischen Prozess sie hilfreich ist.
Die Methode des Ankerns eines Ressourcenteams mittels der bilateralen Stimulierung gehört zum Methodenkoffer des Imaginierens, d.h. zu hypnotherapeutischen Techniken. Die bilaterale Stimulierung selbst wird auch in anderen Bereichen wie z. B. Kinesiologie angewandt und ermöglicht eine optimale Zusammenarbeit beider Gehirnhälften und somit aller Gehirnareale. Man kann davon ausgehen, dass belastende Situationen, in denen man nicht die Lösung findet, mit Stress vergleichbar verarbeitet werden und somit die Zusammenarbeit der beiden Gehirnhälften nur unzureichend ist. Hier bringt die bilaterale Stimulierung das Gehirn gewissermaßen wieder in einen guten Fluss. Die Mitglieder des Ressourcenteams erinnern mich zum einen an die positiven, tragenden Elemente einer guten Eltern-Kind–Beziehung, zum anderen bekommen sie durch das „Symbol der Weisheit“ eine philosophisch-spirituelle Dimension. Insgesamt halte ich diese Auswahl für ein sehr starkes Ressourcenteam. Es ist ja schließlich auch in der Lage, den Rahmen für die Verarbeitung traumatisierende Erinnerungen zu bieten.
Kriterien, wann die EMDR Methode in gestalttherapeutischer Praxis sinnvoll einsetzbar ist
Wenn ich meine Erfahrungen mit der Methode und deren Analyse zusammenfasse, dann komme ich zu der Schlussfolgerung, dass diese Methode in der gestalttherapeutischen Praxis gut einzusetzen ist, vorausgesetzt dass,
- die Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn angemessen tragend ist,
- die KlientIn der Methode zustimmt, besser noch, auch gerne mit ihr arbeiten möchte,
- die TherapeutIn den Eindruck hat, dass es für den therapeutischen Prozess hilfreich ist, wenn die Beziehung der KlientIn mit sich selbst eine Stärkung erfährt, (hier auch bei KlientInnen, die überhaupt so eine positive Selbstbeziehung aufbauen müssen),
- die KlientIn eine Beruhigung braucht, die sie sich selbst nicht geben kann,
- die KlientIn sich in einer Wiederholungsschleife befindet und kognitiv orientierte Methoden bzw. die bisher genutzten, wenig hilfreich erscheinen.
Quellen:
1 Vgl. http://www.emdria.de/emdr/anwendungsgebiete/ [Zugriff am 16.02.16]
2 Vgl. https://www.wingwave.com/ [Zugriff am 16.02.16]
3 Kurze Zeit nach meinen ersten Beobachtungen stieß ich dann auch auf ein Buch von Laurel Panell Tapping in Ressources (2008). Hier beschreibt sie detailliert den philosophisch-psychologischen Hintergrund für diese Ressourcenarbeit, das Vorgehen und bringt Beispiele für die Anwendung.
4 Vgl. Fritz Perls 1976
5 In der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) werden vier psychische Integrationsniveaus bzw. –höhen benannt: gut, mäßig, gering und desintegriert. Dies sind theoretische Abgrenzungen, die ihrerseits noch in Zwischenstufen differenziert werden können und die zur Orientierung für Diagnostiker dienen. Ein mäßiges Integrationsniveau zeichnet sich durch ein Übermaß an psychischen Regulationsmechanismus aus. Die Balance Verstand-Emotion ist verzerrt, Grübeln, Zwangsgedanken etc. stehen im Vordergrund, wie es bei Zwängen und Depression im psychischem Störungsbild charakteristisch ist.
6 Vgl. Laura Perls 1989
7 Gut kann man das bei Lotte Hartmann-Kottek (2012) nachlesen.
Literatur:
Hartmann-Kottek, Lotte. ‚(2012) Gestalttherapie. Lehrbuch (3 überarb. u. erw. Fassung) Berlin/Heidelberg: Springer.
Parnell, Laurel, Ph.D., (2008) Tapping In. A Step-by-step guide to activating your healing resources through bilateral stimulation. Boulder: Sounds True. Inc.
Perls, Fritz, (1976) Grundlagen der Gestalttherapie. Einführung und Sitzungsprotokolle. München Pfeiffer.
Perls, Laura, (1989). Leben an der Grenze. Köln: Edition Humanistische Psychologie.
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